Flüchtlinge | Eher verdursten als warten
TSBN | 31. März 2016 Dieser Tage schrieb mir ein Freund aus dem Niger eine Mail. Er stammt aus der Nähe von Agadez im Norden des Landes. Er schrieb über die Flüchtlinge und den Treck, der sich dort nahezu täglich Richtung besseres Leben bewegt. „Es ist ein trauriger und gefährlicher Weg für die armen Leute,“ schrieb er. Sie müssen quer durch die Sahara. Viele überleben das nicht.
Wir, hierzulande, sind mehrheitlich erleichtert. Es kommen nicht mehr so viele Flüchtlinge nach Deutschland – zur Zeit. Es war doch vielleicht etwas viel. Irgendwann konnte das ja nicht mehr so weitergehen. Wohin mit all diesen Leuten? Und dann wird womöglich bei „uns“ gespart, damit „die“ unterstützt werden können. So war das doch, und so ist es noch vielerorts. Das gilt nicht ausschließlich für Sachsen. Einer, der das politisch regelrecht ausquetscht, ist der bayerische Ministerpräsident Seehofer. Einer aktuellen Umfrage zufolge hat er bei den AfD-Leuten gegenwärtig mehr Anhänger als in der eigenen Gefolgschaft. Man kann in seiner Sprache etwas finden, das nur noch als widerlich zu bezeichnen ist. Es kommt dem Vokabular des braunen Packs viel zu nahe.
Flüchtlinge in Syrien, Jordanien, Irak, Türkei, Kenia
Zu viele bei uns betrifft diese Sprache nicht sonderlich. Wir kaufen lieber ein. Die Zahl der Arbeitslosen ist im Februar wieder gesunken, auf 6,5%. So viele Beschäftigte wie jetzt gab es seit einem viertel Jahrhundert nicht mehr. Mit denen, die selbständig arbeiten, sind in Deutschland über 43 Millionen Menschen in Lohn und Brot. Das gute Leben rauscht in uns hinein. Die großen Probleme der Welt an uns vorbei. Angenehm. Im vergangenen Jahr haben die Deutschen sagenhafte 1,63 Billionen Euro ausgegeben: für privaten Konsum. Das ist eine unvorstellbare Zahl. Jedem und jeder ist Wohlstand zu gönnen. Schließlich wurde dafür vermutlich auch ehrlich gearbeitet, jedenfalls von den meisten.
In der Süddeutschen Zeitung beschrieb Nadia Pantel die Realität in Hamburg, wo in einem vornehmeren Stadtteil 200 Flüchtlinge aufgenommen werden sollen: „Der arabische Raum ist in Hamburg-Harvestehude bisher vor allen Dingen in Form des Bulgursalates bei Butter Lindner angekommen, für 29,50 Euro das Kilo.“ Eine eiskalte, erbarmungslose Logik, denen die Gegner im vornehmen Hamburg folgen. Dort geht es nicht, aber im Libanon schon, oder in Jordanien. Die Hilfsorganisation OXFAM nannte unlängst ganz andere Zahlen als die zweihundert an der Elbe. Seit 2013 seien nur 67.100 Menschen von reichen Staaten endgültig aufgenommen worden.
Zehn Prozent Syrer im Land – nein, nicht bei uns
Dies entspricht gerade einmal 1,39 Prozent der Flüchtlinge aus Syrien. Ihre Gesamtzahl beträgt 4,8 Millionen. Immerhin: Deutschland, Kanada und Norwegen hätten viel geleistet und tun es immer noch, sagt die Hilfsorganisation anerkennend. Dennoch: Die meisten Flüchtlinge sind in Syriens Nachbarländern Türkei, Libanon, Jordanien und Irak. In Jordanien sind mittlerweile 10% der Bevölkerung Syrer. Und im Libanon ist es jeder fünfte Einwohner. Solche Zahlen möge einmal auf Deutschland hochrechnen, wer findet, dass zu viele bei uns aufgenommen wurden.
Menschen sind keineswegs nur im Nahen Osten oder Arabien gezwungen, zu fliehen. Im Tschad leben die Menschen in großer Armut. Über die Grenze von Darfur im Sudan aus suchen Verfolgte hier zusätzlich zur heimischen Armut Schutz. Entwicklungsminister Müller befindet sich gerade auf Afrikareise, unter anderem in Kenia. Dort hat er Dadaab besucht, das größte Flüchtlingslager der Erde. Dort leben 350.000 Menschen, das sind fast 50.000 mehr Einwohner als in Bonn leben. Fast all diese Leute sind aus Somalia geflohen, wo Krieg und Anarchie herrschen. Insgesamt leben in Kenia 660.000 Flüchtlinge. Was meinen wir reichen Menschen eigentlich, wenn wir sagen: „Wir sind an den Grenzen unserer Belastbarkeit angekommen?“
Keinesfalls würde jemand ernsthaft leugnen, dass es auch in Deutschland Armut gibt. Nicht nur der Paritätische Wohlfahrtsverband weist wieder und wieder darauf hin. Und gewiss muss auch für die hier Armen gesorgt werden. Wege müssen aufgezeigt werden, wie benachteiligte Jugendliche dennoch Wege in eine gute Zukunft gehen können. Aber die Grenze der Belastbarkeit, wie es etwa die österreichische Regierung jetzt postuliert? Und gemeinsam mit ihr rechtskonservative und braune Leute hierzulande?
Nicht die UNO versagt, die reichen Länder sind es
Die Vereinten Nationen würden viel mehr Unterstützung leisten, wenn sie könnten. Solange aber, wie gerade erst wieder in Genf, nur konferiert und nicht wirklich geholfen wird, wird die weltweite Flucht nicht enden. Jetzt, wo sich nicht nur Syrer, sondern auch viele andere auf den Weg machen – jetzt wird über die „Bekämpfung der Fluchtursachen“ diskutiert. Das einkaufende Publikum soll damit beruhigt werden. Diskurse über Ursachen indes sind längst keine ernstzunehmende Antwort auf die Gegenwart mehr. Jetzt fliehen die Menschen. Sie machen sich auf in Agadez, quer durch die Sahara. Bis die Ursachen der Flucht bekämpft sind, leben längst ihre Urenkel. Sie gehen jetzt eher das Risiko ein, in der Sahara grausam zu verdursten als erneut auf die reichen Länder zu warten.
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.