Türkiye | Rein in die EU, aber schnell!
TSBN | 21. März 2016 Vom Versprechen, dass ihr Land Vollmitglied der Europäischen Union werden könne bis hin zur totalen Ablehnung haben die Türken schon so ziemlich alle Varianten von Europa vernommen. Türkiye, ihr Land, fühlte sich lange nicht ernst genommen, ja sogar verschaukelt. Und das zu Recht. Vielleicht ist das jetzt die Kehrtwende.
Das Hin und Her der Europäischen Union, nicht gehaltene Versprechen mit der Aussicht, eines Tages Vollmitglied der EU werden zu können: das alles hat nicht etwa die jetzige Regierung und ihren Staatspräsidenten irritiert. Viel bedeutender ist der Vertrauenszerfall mit den Türken im Land selbst. Die Bevölkerung, die sich mehrheitlich stets als Freund Deutschlands verstanden hat und immer noch versteht, muss enttäuscht sein. Das alles scherte die Europäer nicht sonderlich, am Wenigsten die Deutschen. Angela Merkel sprach von einer „privilegierten Partnerschaft“ mit der Türkei. Die Verhandlungen gingen kaum voran. Die Perspektive einer vollen Mitgliedschaft sah anders aus.
Der 21. März ist ein besonderer Tag
Heute feiern die Kurden Newroz, ihr Neujahrsfest. Newroz bedeutet „der neue Tag“. Etymologisch hat sich dieses auch hierzulande inzwischen bekannte Wort aus ,,nu“ und ,,roj“, schließlich über ,,nur“ und ,,nuroz“ zu ,,Newroz“ entwickelt. Es drückt also Neues aus – das Ende des Winters ebenso wie die Begrüßung des Frühlings. Was wäre das für ein Frühling, wenn sich der diktatorisch gerierende türkische Präsident endlich aufraffen könnte mit den Kurden Frieden zu schließen? Er ist davon allerdings weiter entfernter denn je. Gewiss, auch die PKK hat Fehler gemacht. Dabei hatte ihr Anführer Abdullah Öcalan Anfang vergangenen Jahres in einer Botschaft zu Newroz dazu aufgerufen, den Konflikt mit der Regierung in Ankara beizulegen. Er sprach davon, in eine „Ära des Friedens, der Brüderlichkeit und der Demokratie“ einzutreten. Die kriegerischen Auseinandersetzungen jenseits der Grenze indes verwandelten diesen Wunsch zu Makulatur. Und heute bombardieren türkische Truppen Teile des eigenen Territoriums. Jenes Gebietes, in dem sie kurdische Terroristen vermutet, wie sie sagt. Zivile Opfer nimmt sie in Kauf und feuert damit diesen innertürkischen Krieg in gefährlichster Weise an.
Aber nicht nur die Gewalt gegen Kurden im eigenen Land, ebenso das Vorgehen gegen Frauen beim Internationalen Frauentag am 8. März – mit Gummikugeln ging dort die Polizei vor – und erst recht das stetige Abdunkeln offener Medien: all dies sind Belege einer offenen Diktatur. Auch ist dies Rassismus der übelsten Sorte, wenn unter diesem Wort auch Kultur- oder Religionsrassismus subsummiert wird. Dieser Rassismus kommt freilich direkt aus der Regierung des Landes. Es mag Vorbehalte und Ablehnung, möglicherweise gar Hass in der übrigen Bevölkerung gegen Kurden geben: die Regierung und ihr Präsident Erdoğan befeuern ihn im doppelten Wortsinne anstatt ihm offen die Stirn zu bieten.
Die Türkei menschenrechtlich an die Kandare nehmen
Am heutigen Tag ist ebenso der „Internationale Tag zu Überwindung der Rassendiskriminierung“, ausgerufen von der UNO 1966. Wer aber andere Gruppen in der Gesellschaft als die eigene unterdrückt, wegen ihrer Überzeugung einsperrt oder andere Religionen oder religiöse Richtungen unterjocht – auch der ist ein Rassist. In der Türkei sehen sich Aleviten, Kurden, linke oder säkulare Repräsentanten wachsendem Druck ausgesetzt. Selbst konservative Politiker, die nicht zu hundert Prozent in Erdoğans Politikorchester mitspielen, müssen sich hüten. Denn auch die Judikative der AKP, der herrschenden Partei der Türkei, ist längst paralysiert. In einer Art Parallelsystem hat der Herrscher seine eigenen Richter eingesetzt, die nach seinem gut Dünken „Recht“ zu sprechen haben.
Die Frage, ob der „Türkei-EU-Deal“ auf diesem türkischen Hintergrund moralisch zu rechtfertigen ist, wird in Deutschland, und nicht nur hier, äußerst kontrovers debattiert. Vielleicht wird er die Zahl der Kriegsflüchtlinge verringern, die nach Europa – und vor allem nach Deutschland – streben. Womöglich wird er sogar das sogenannte Schlepperwesen reduzieren; das ja nichts anderes als organisierte Kriminalität ist. Aber selbst, wenn sich die EU-europäischen Wünsche durch diesen Vertrag erfüllen sollten, bleibt die Frage: wem wir der Handel am meisten nützen?
Der Deal mag eine Schande sein, und unser persönliches Verhalten?
Dieser Handel, der EU angesichts mangelnder Alternative Brüssel durch Ankara abgetrotzt, wird ohnehin nur dann „funktionieren“, wenn die AKP-Leute sich wenigstens an die Genfer Flüchtlingskonvention halten. Unterschrieben haben sie diese ja immer noch nicht. Es mag sein, dass das, was PRO ASYL verlautbarte, stimmt: Der Deal mit der Türkei sei „eine Schande für Europa“. Doch es ist gewiss nicht die einzige. Was ist es anderes als eine Schande, durch Agrarsubventionen viele Länder in Afrika tot zu subventionieren? Was anderes, als Fußbälle aus Pakistan oder Klamotten aus Bangladesch zu konsumieren, die unter unwürdigen Arbeitskonditionen gefertigt werden? Was ist es anderes als eine Schande, wenn wir mit der Volksrepublik China florierende Geschäfte machen? Letztere Aspekte betreffen nicht die leicht zu kritisierenden Regierungen Europas. Diese betreffen jeden Einzelnen. Die Kritik an dem Deal mag berechtigt sein, nachvollziehbar allemal. Gleichwohl muss die Frage gestellt werden, ob sie nicht – von den meisten gestellt – wohlfeil und selbstgerecht daherkommt. Das eigene (Kauf)Verhalten mag einer konsequenten Überprüfung unterziehen, wer jetzt von Moral und Schande spricht.
Es geht nicht um Totschlagargumente, sondern um das Maß der Kritik. Die Realitäten sind derzeit so, wie sie sind – nicht nur in der Flüchtlingsfrage. Auch im Bezug auf die Krim, die Ukraine, Saudi-Arabien oder auf Syrien. Gewiss, es gibt die wichtige Zivilgesellschaft. Sie mag sich, moralisch gut begründet, für oder gegen etwas oder jemanden aussprechen. Sie mag Vorschläge unterbreiten, alternative Wege zu versuchen. Das ist nicht nur ihr Recht, sondern wird ebenso erwartet. Gleichwohl ist es die Aufgabe der Regierenden und der Parlamente, ins Dickicht der Realitäten Lücken zu schlagen, durch die gegangen werden kann; mag dies auch gebückt geschehen.
Ohne eine EU-Mitgliedschaft wird Türkiye eine Diktatur
Ob der Deal mit der Türkei Zukunft hat, ist heute ohnehin offen. Ob er für die Türken innerhalb des Landes zu einem besseren Leben führt: dies sollte durchaus auch Messlatte dieser Vereinbarung sein. Das werden dann nicht wir alleine, sondern Kurden, Aleviten, Laizisten, Atheisten, Linken, Homosexuellen und viele andere unterdrückte und missachtete Gruppen selbst befinden. Das ist nicht unser Bier alleine.
Um überhaupt eine offenere Perspektive für all jene zu schaffen, die unter dem selbsternannten Sultan leiden, muss die Türkei Vollmitglied der EU werden. Die Verhandlungen mögen beginnen! Finanz- und Wirtschaftsvereinbarungen dürften rasch in trockenen Tüchern sein. Wenn es um die Menschenrechts-Kapitel geht, gilt es.
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