Rechtsstaat | versus Autokratie und Willkür
TSBN | 19. April 2016 Keine Sorge: es geht heute nur vordergründig um den Herrn Böhmermann. Der hat sich ja ohnehin zurückgezogen. Vielleicht seine beste Entscheidung der letzten gut zwei Wochen. Es geht um das, was Deutschland von der Türkei unterscheidet. Beziehungsweise das deutsche und das türkische System – politisch und juristisch. Dazu braucht man nicht einmal viel Zeit. Die nehmen sich eh immer weniger, wenn es um Meinungsfindung geht.
Vor Jahren regte sich ein Bekannter und Kollege mir gegenüber mächtig auf. „Es wird schlimmer und schlimmer,“ sagte er sinngemäß. Immer mehr Leute hätten „zu jedem Scheiß eine Meinung, aber kaum jemand bildet sich noch ein Urteil!“ Der Ausbruch meines Bekannten liegt gut fünfundzwanzig Jahre zurück. Und es ist ja nicht wirklich besser geworden bis heute. Dabei haben wir heute – im Vergleich zur digitalfreien Zeitzone der Menschheit – mehr Möglichkeiten denn je. Wir können nahezu alles nachschlagen, was wir suchen. Von Wikipedia über Google bis hin zu den investigativen Qualitätsmedien. Von Anonymous über Edward Snowden bis zu Glenn Greenwald und seiner Seite https://theintercept.com/. Süddeutsche Zeitung, Recherchepools hier, unerschrockene Journalisten dort.
Echte Gewaltenteilung bedeutet Rechtsstaat
Manche riskieren ihr Leben, um über üble Machenschaften und Verbrechen der Mafia oder die Korruption bei Wirtschaft und Politik zu informieren. Niemand kann heute mehr behaupten, er oder sie habe keinen Zugang zu Informationen. Jedenfalls nicht, wenn er in dem winzig kleinen Teil der Erde lebt, in dem es eine liberale Demokratie gibt. Deutschland gehört dazu. Keine Ausreden mehr! Es gibt allenfalls noch ganz laue Erklärungen: „Hab ich nicht gefunden“ oder „Lügen eh alle“. Mit diesen Demokratiezerstörern will ich nichts zu tun haben. Wer vorsätzlich öffentlich zu Tatsachen erhebt, was nicht veritabel zu belegen ist, ist letztlich ein Feind der Freiheit. Denn er diskreditiert jene Demokratie, die ihm dieses Lügen überhaupt erst ermöglicht. Dabei geht es hier nicht um schlechte Stimmung, persönlichen Ärger oder die eine oder andere unreflektierte Meinung. Selbst ein gepflegtes Vorurteil gegenüber Bayern oder Ostfriesen kann befreiend und heiter wirken. Als neutraler Bonner füge ich hinzu: das gilt natürlich auch für Köln und Düsseldorf.
Bei der öffentlich geführten „Debatte“ um den Komiker Böhmermann und das Verhalten Bundeskanzlerin Merkels geht es um mehr als um eine Kleinigkeit. Sicher auch um die Grenzlinie dessen, was Satire will und kann und darf. Dahinter aber liegen deutlich wichtigere Fragen. Zum Beispiel die, wie wir es in unserem Land mit der Gewaltenteilung halten. In ihrer bekannt nüchternen Art hat Merkel dieser Tage begründet, warum die Bundesregierung das Strafverfahren gegen den Komiker zulasse: „Nicht die Regierung, sondern Staatsanwaltschaft und unabhängige Gerichte haben das letzte Wort.“ Die Erklärung Merkels in voller Länge dauert fünf Minuten und sieben Sekunden. Die wenigsten, die sich zu Merkels Entscheidung geäußert haben, dürften diese wenigen Minuten angehört haben. Hier sind sie.
Verhaftungen, Willkür, Selbstjustiz bedeuten Erdoğan
Es gibt in unserem Land auch Fehlurteile von Gerichten. Womöglich werden Urteile gefällt, die deren Opfer als willkürlich bewerten. Oder die objektiv falsch sind. Das ist weder zu leugnen noch zu verniedlichen. Der Unterschied zwischen einer Autokratie oder gar einer Diktatur indes besteht in einem: der Systematik. In der DDR gab es auch Gesetze. Daran hatten sich die Bürger zu halten. Es gab Strafrecht, Zivilrecht. Und dennoch: wer etwa als Bürgerrechtler vor Gericht saß, hatte schlechte Karten. Da wurde nach politischer Opportunität entschieden. Nach sonst nichts. Da halfen die Gesetze nicht mehr. Und das bedeutet schlicht und einfach: mal so, mal so. Das war Willkür. Darauf konnte sich niemand verlassen. Und diese Beliebigkeit, diese Willkür wütet auch in der Türkei.
Darf dennoch Deutschland Gesetze ignorieren oder gar übergehen? Wäre das noch rechtsstaatlich? Sicherlich nicht. Merkel hätte es sich – betrachtet man die Umfragen dazu – sehr einfach machen können. Etwa so, wie die SPD-Bundesminister. Die fanden das nicht so toll und haben das auch mit bedeutender Miene entsprechend vorgetragen. Aber warten wir doch mal ab, wie deutsche Gerichte entscheiden. Erst so wird ein rechtsstaatlicher Schuh daraus. Der Sultan, wie er sich am liebsten sähe, hat sich in einem Interview mit der großartigen Christiane Amanpour in einem CNN-Interview erneut demaskiert. Da erläutert er seine Vorstellungen von Freiheit und Demokratie und Rechtsstaat, dass einem schwindelig wird. Auch dieses Interview ist nicht lang. Dauert nicht einmal neun Minuten.
Meinung finden und Urteil bilden
Es ist einfach, sich eine Meinung zu bilden. Deutlich schwieriger ist es, zu einem Urteil zu finden. Nicht jeder hat die Zeit und die Muße, sich lange und ausgiebig mit jedem Thema zu befassen, das gerade trendig ist. Es sollte gleichwohl immer Zeit übrig sein, die Frage von Demokratie und Rechtsstaat versus Diktatur und Willkür zu beantworten. Wie gesagt: Es geht nicht immer nur um Komödianten. Es geht manchmal auch einfach um die Substanz. Artikel wie diesen könnte ich in der Türkei vielleicht auch schreiben. Aber womöglich hätte ich dann eine Anzeige vom Präsidenten am Hals. Ganz willkürlich. Und ganz ohne Rechtsstaat.
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