Weltflüchtlingstag | Das Lager der drei Träume
TS|BN 20. Juni 2016 Am Weltflüchtlingstag reisen wir nach Jordanien. Das Flüchtlingslager Zaatari dort liegt nicht weit von der syrischen Grenze entfernt. Als ich zum ersten Mal dort war, befand es sich gerade im Aufbau. Das ist jetzt dreieinhalb Jahre her. Bei einem meiner Besuche dort habe ich Flüchtlinge nach ihren Träumen gefragt. Ihre Antworten haben mich beeindruckt. Sie sind voller Poesie und Hoffnung. In meiner Geschichte aus dem September 2012 sollen sie – am heutigen Weltflüchtlingstag – noch einmal veröffentlicht werden.
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Am Weltflüchtlingstag 2016 die Geschichte aus einer anderen Welt
Ich wollte eigentlich zu einem anderen Zelt, das schon hier steht, seit ich vor über sechs Wochen erstmals hier war – im Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien. Alle schwitzen hier, mich natürlich eingeschlossen. Die Temperaturen sind immer noch hoch. „Über 30 Grad Celsius“, sagt mir Abdul Majid, ein Mitarbeiter der Vereinten Nationen. Er begleitet mich durch das Lager. „Ich sage das immer dazu, sonst fängt man noch zu frieren an.“ Er lächelt. Er ist ein syrisch-jordanisches Kind. Vater und Mutter kommen aus dem jeweils anderen Land. Er übersetzt, Wort für Wort, nahezu simultan. Er findet offenbar auch die richtige Antwort, wenn die Flüchtlinge alle ihre Erlebnisse gleichzeitig mitteilen wollen. Bei ihm geht das nicht. Mit einer unspektakulären Geste bringt er sieben Stimmen innerhalb von zwei Sekunden zum Schweigen – bis einer wieder das Wort erhält.
Adnans Traum
Anstatt weiter zum Zelt zu gehen, zu dem ich eigentlich wollte, werden wir also aufgehalten. Viele der Syrer hier nutzen die Gelegenheit, Fremden über ihre Flucht zu berichten oder besser: sich das alles von der Seele zu reden. Auch aus Adnan, einem der jungen Männer, schoss es heraus: „Sie haben auf uns geschossen. Mit Gewehren und Granaten haben sie geworfen. Unser Haus ist fast komplett zerstört. Es war furchtbar. Wir konnten nicht mehr. Wir mussten raus aus Syrien.“ Adnan holt kaum Luft. Ständig rubbelt er mit seinem Handtuch über den Nacken. Er ist nervös, aufgebracht, verzweifelt. Die Art seines Berichts zeugt ebenso von großer Verzweiflung. „Hier sind wir in Sicherheit. Hier ist keine Gewalt. Aber ist das ein Leben?“ „Nein, sicher nicht“, antworte ich leise, „sicher nicht“.
„Ich möchte gern von Dir etwas wissen“, sage ich, und genau so, wie ich ihm zugehört habe, wartet auch er. Ob er malen könne, frage ich, oder zeichnen. Nein, er sei Fahrer. Früh habe er die Schule abbrechen müssen, weil sein Vater sie nicht länger habe bezahlen können. „Ich fahre alles. Leute, Güter, einfach nur das Auto von A nach B“, erklärt er. Aber was ich nun wissen wolle? Ich bitte ihn, er solle sich einfach vorstellen, er könne malen. Ein großes Bild. Schwarzweiß oder in bunten Farben. „Wie würde so ein Bild aussehen, wenn Du Dir Dein Heimatland Syrien von heute aus gesehen in zwanzig Jahren vorstellst?“
Es wid gut sein
Andere wollen mit der Antwort beginnen, weil Adnan eine Pause macht. Abdul Majid macht eine seiner ruhigen Gesten. Nun kann Adnan sein imaginäres Bild erklären: „Es wird gut sein. Jeder hat die Möglichkeit, etwas zu lernen. Jeder, nein – das ganze Land wird sich entwickeln und immer weiter entwickeln. Es wird Wohlstand für alle geben. Jeder wird einen Arzt aufsuchen können, egal wie viel er verdient. Alle werden von einer guten Ausbildung profitieren. Es wird unwichtig sein, welcher Religion Du angehörst. Jeder hat die gleichen Chancen, Männer und Frauen, reich und arm. Wir werden ein tolerantes Land sein, anders als heute.“ Er sagt es nicht gelassen, nicht als ob er ein schönes, buntes Bild malt. Er drückt es mit viel Pathos aus. Es soll seine Entschlossenheit zum Ausdruck bringen, dafür auch zu kämpfen.
Der Traum der drei Freunde
Woher sie kommen, wollen sie nicht verraten. Drei junge Männer sitzen in einem Zelt, als wir daran vorbeigehen, und sie bitten uns hinein. Sie sind 17, 20 und 23 Jahre alt. Ihre Familien sind nicht da, sie wissen auch nicht, wo ihre Eltern sind oder ob sie noch leben. Einer vermutet sie im Libanon, ein anderer in der Türkei. Sie haben sie auf der Flucht verloren und ihre Mobiltelefone ebenso. Zunächst sind sie die „Starken“ in diesem Gespräch, die kämpfen wollen. Einer fragt mich, ob ich ihnen Gewehre besorgen könnte. Ich gebe ihnen keine Antwort. Als sie fragen, woher ich komme, erzähle ich ihnen kurz die Geschichte von zwei Ländern, die sich jahrhundertelang bekämpft haben und die Krieg gegeneinander führten. Und dass sie heute die besten Freunde in Europa seien: Deutschland und Frankreich. Mir ist klar, dass der Bürgerkrieg in Syrien anders und dass es kaum vergleichbar ist. Aber während sie zuhören, werden sie ruhiger.
Ich frage einen der drei, der bisher kaum ein Wort beigetragen hat, nach dem Traum auf dem Bild. Die beiden schauen ihn an. „Es wird der Himmel sein“, antwortet er, der der Jüngste unter ihnen ist. „Ein großer Himmel“, ergänzt der bisherige Wortführer kurz. „Ja, sicher wird er groß sein. Mit vielen Pflanzen, Bäumen, Sträuchern. Es wird gut riechen und alle werden sich dort wohlfühlen.“ Die beiden anderen hören nur zu, sie nicken zu fast jedem Wort ihres Freundes. „Vor allem wird Frieden sein und kein Krieg. Ist das ein schönes Bild?“
Ein ganzes Bild in einem einzigen Wort
Kurz bevor wir gehen und ich wieder nach Amman zurückfahren will, stehen wir im Schatten eines Containers der Vereinten Nationen, in dem ein Büro untergebracht ist. Endlich stehen wir im Schatten. Das tut gut. Zwar gab es heute viel Wind, was angesichts der Temperaturen angenehm war. Aber mit dem starken Wind wurde ständig Sand umher gefegt, fast wie viele kleine Stürme. Auch hier gesellen sich sofort Flüchtlinge um meinen Begleiter und mich. Einer von ihnen, Muhsin, hat einen gepflegten grau-weißen Bart und tiefe Lachfalten.
Kaum zu beschreiben, was die Flüchtlinge sehen müssen
Er spricht im Gegensatz zu den meisten anderen, die ich bisher getroffen habe, sehr ruhig. Seine Gesten wirken kontrolliert, er spart sie sich für die wichtigen Worte auf, die er uns sagen will. „Willst Du ein Video sehen? Aber es ist sehr schlimm.“ Ich will, irgendwie muss ich. Was diese Flüchtlinge alles tatsächlich sehen mussten, denke ich mir, muss ich wenigstens in einem Video ertragen können. Als ich es ansehe, verzieht sich mein Gesicht. Ohne mein Zutun. Ich spüre Tränen, weine aber nicht. Ich sehe es mir zwei, vielleicht drei Minuten an. Dann gebe ich es ihm zurück, obwohl es noch nicht zu Ende ist. Ich werde hier nicht beschreiben, was ich gesehen habe. Es ist grausam, und nicht einmal dieses Wort beschreibt es ausreichend.
Nach einer Pause stelle ich schließlich Mushin auch die Frage nach dem Traum. Die mit dem Malen oder Zeichnen. In zwanzig Jahren, von heute aus gesehen. Er überlegt nicht einmal lange. Er antwortet mit einem einzigen Wort. Noch dazu mit einem, das mich überrascht, weil man es nicht sehen kann. Weil es eigentlich kein Bild ist. Er sagt: „Süß.“
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Wir haben einige Gesichter mit Unschärfen belegt,
um deren Identität zu schützen. Sogar am Weltflüchtlingstag.
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