Orlando | Und wo steht die AfD jetzt?
TS|BN 15. Juni 2016 Schwule zählen lassen in Thüringen? Den Islam aus Deutschland verbannen? Grenzen dicht machen? Auf Flüchtlinge schießen? Keine Schwarzen als Nachbarn? Eine Maus, die abrutscht? Die Positionen der rechtsradikalen AfD sind unklarer als es scheint. Genau das ist so gewollt. Jetzt aber muss sie Position beziehen. Nicht nur zu Orlando.
Was in Orlando passiert ist, ist unfassbar. Es ist konkret und erscheint doch unwirklich im selben Augenblick. Es ist real, und doch weigert sich das Gehirn, diese mörderische Tat zu begreifen. Selbst die brillantesten Redner ringen nach Worten. Oder sie brauchen Tage, um dafür Worte zu finden.
Das Nachrichtenrondell dreht sich derweil weiter. Schwierig, den Überblick zu behalten. In Paris wird ein Paar ermordet, das für die französische Polizei gearbeitet hat. Zu Beginn der Europameisterschaft prügeln Gewaltverbrecher enthemmt auf Unschuldige ein. Sogenannte Hooligans. Die Grünen wissen einen Tag vor der Abstimmung im Bundesrat immer noch nicht, wie sie abstimmen sollen. Die „sicheren Herkunftsländer“ stehen auf der Tagesordnung. Schließlich, langsam wird es lächerlich: die Russen um Putin fühlen sich falsch verstanden. In Westeuropa von den echten Fußballfans und Frankreich. Und in Osteuropa von der NATO. Die Liste ist noch nicht zu Ende: Niedrigzins, Brexit, Flüchtlinge, Trump und – die Preise für Fleisch.
Die AfD zu Ende denken
Dabei geht einiges unter. Neben und über und unter all den Schlagzeilen werden zu wenige AfD-Fragen gestellt. Wir haben Verständnis für die Kollegen, die für tagesaktuelle Medien arbeiten müssen. Da erwartet der Kunde (auch die Kundin) Kommentare. Schnell bitte; Zeit hat kaum noch niemand. Schon gar nicht, auf den nächsten Tag zu warten. Nach dem aber, was in Orlando geschehen ist, wird jetzt die AfD einmal zu Ende gefragt:
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- Was bedeuten all die radikalen Positionen, die die AfD postuliert, für die Zukunft?
- Wohin führt das, wenn in Thüringen Homosexuelle gezählt werden sollen?
- Wenn der Islam nicht zu Deutschland gehört: was machen wir dann mit all den Muslimen nur?
- Wenn Boateng kein Nachbar sein darf, wie leben wir dann zukünftig zusammen?
- Wenn der Euro die falsche Währung ist, womit wollen wir dann demnächst bezahlen?
- Wenn die Kernenergie wieder die entscheidende Energie werden soll, wohin dann mit den Erneuerbaren?
- Wenn das Blut angeblich die Nation definiert und wer dazugehört, werden dann alle anderen rausgeschmissen oder getötet?
- Wenn die Muslime in die Moschee gehen wollen, werden die dann alle daran gehindert?
- Wenn Antisemitismus sich in der AfD ausbreiten sollte, werden dann Juden wieder deportiert und umgebracht?
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Orlando, das „Volk“ und die echte Mehrheit
Darauf bleibt die AfD bisher klare und eindeutige – vor allem einhellige – Antworten schuldig. Sie gibt keine eindeutigen Antworten darauf, wie „ihr“ Deutschland im „Idealzustand“ aussehen würde. Bisher gibt es also keine Antworten, die als von der ganzen Partei akzeptiert gelten können. Stattdessen liefert diese rechte Partei gleich immer fröhlich mehrere Interpretationen freihaus mit. So eine Art „Wie es Euch gefällt“. Ein Sudoku mit Variablen. Da suche sich doch bitte jede/r aus, was jede/m gerade in den politischen Kram passt. Für fast alle ist fast immer was dabei: für die bürgerlichen Wähler, die sogenannten besorgten. Die eigentlich-hab-ich-gar-nichts-gegen-Ausländer-Leute und natürlich auch für die Eurohasser. Das ist das AfD-Prinzip. Vor allem aber ist es ihr Glaubwürdigkeitsproblem. Denn für Radikale und Extremisten gibt’s auch immer was Gefälliges zum Auswählen.
Es ist legitim, für und gegen etwas zu sein. Selbstverständlich. Es sollte in einer Demokratie kein Problem sein, zu streiten. In einer offenen Gesellschaft gehört es sich, deutlich und klar über eigene und gegnerische Positionen zu diskutieren. Ein zusammengewürfelter Laden aber, der (auch wenn es den meisten zu viel ist) 10, 15 oder 20 Prozent der Stimmen bei Wahlen bekommt, ist dennoch nicht „das Volk“. Ein Teil von vielen ganz unterschiedlichen, aber eben nicht das ganze.
Es ist hohe Zeit, keine Ausreden und „Interpretationen“ mehr zuzulassen. Keine Ausflüchte mehr zu akzeptieren und nichts Schwammiges mehr hinzunehmen. Die Methode ist durchsichtig geworden: Dieses war nicht so gemeint. Jenes ist falsch verstanden worden. Dies wurde jemandem in den rechten Mund gelegt. Jenes ist gar nicht, jedenfalls nicht so, mitgeteilt worden.
Die Heuchelei vom Liberalismus
Davon profitieren sie, nicht nur in Umfragen, inzwischen auch bei Wahlen. Es jagt einem einen Schauer über den Rücken und bereitet nicht wenigen echte Angst, was die rechten Radikalen anstreben. AfD-Leute treffen sich mit österreichischen Rechtsradikalen. NPD-Leute unterstützen die AfD. Höcke gibt den Blutsbruder. Und Pegida und AfD und Nazis sitzen – gefühlt – alle in einem Boot. Die gut situierten „besorgten Bürger“ reden sich rein, weil das Programm gut klingt: „Wir sind Liberale und Konservative“ steht als erster Satz in der Präambel des AfD-Grundsatzprogramms. Es klingt wie blanker Hohn. So, als ob da Leute auf die liberale Demokratie spuckten. Oder ist es vielleicht doch so? Liberale verteufeln also „Undeutsches“? Konservative wollen keine Spieler mit internationalem Hintergrund in der Fußball-Nationalmannschaft?
Schluss mit dem Lügen, dem Biegen der Wahrheit, dem Manipulieren der Wirklichkeit. Unsere Nation ist nicht deshalb so bunt, weil es Nazis und andere Radikale gibt. Deutschland ist stark, weil es so vielfältig ist. Mit Schwulen und Lesben und Katholiken und Atheisten. Mit Weißen und Schwarzen und Türken und Chinesen. Auch mit dem Islam und den Muslimen.
Und weil wir da gerade angekommen sind: Ramadan mubarak und Allah hafiz an alle, die gerade fasten!
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