Kölner Demonstration | Demokratie und Freiheit
TS|BN 31. Juli 2016 Die Kölner Demonstration hat mit Demokratie und Freiheit zu tun. In der Domstadt wird heute für den türkischen Diktator Erdoğan demonstriert. Das ist gut, weil es möglich ist. Das Versammlungsrecht gilt hierzulande für noch ganz andere Gruppen. Hooligans, Kommunisten, Nazis, Pegida und andere Extremisten dürfen das auch. Dafür haben viele Menschen in der Geschichte ihr Blut vergossen. Anderswo auf der Welt tun sie das noch heute. Womöglich auch in der Türkei. Die Kölner Demonstration ist also das Gegenteil dessen, was Erdoğan und seine Schergen für Demokratie halten.
Verwirrung der Begriffe
Mit dieser Tatsache sollten Demokraten locker umgehen. Es ist ja nichts Neues. Andere haben solche Absurditäten schon lange vor Erdoğan vorgemacht. In der DDR und Ost-Berlin erzielte die SED – die sich übrigens nie aufgelöst hat und sich heute „Die Linke“ nennt – immer weit über 90% der Stimmen. In der „Deutschen Demokratischen Republik“ war das. Heute ist ihre Zustimmung im Volk auf ein reales Maß geschrumpft. Von einer eigenen Mehrheit können sie seit der Wiedervereinigung nicht einmal träumen. Selbst in Ostdeutschland stellen sie gerade mal einen einzigen Regierungschef. Weil es in Deutschland eine liberale Demokratie gibt. Und die Wahlen frei und geheim sind; bei gleichzeitig maximaler Informationsfreiheit. Der Zugang zu Medien unterschiedlicher Richtungen ist möglich. Ob gedruckt, gesendet oder im Internet. Dies ist eine entscheidende Voraussetzung für echte Demokratie. Allzu oft werden die Begriffe durcheinander geworfen, und das eine wird mit dem anderen vermengt.
Defizit bei der Meinungsfreiheit in Deutschland?
Der Verein UETD, die Union Europäisch-Türkischer Demokraten e.V., hat die Demo in Köln angemeldet: „Ja zur Demokratie. Nein zum Staatsstreich.“ Diesen Slogan trägt die Veranstaltung. Die UETD ist auf vielfältige Weise mit der AK-Partei Erdoğans verbandelt. Vor der letzten Berlin-Wahl 2011 hatte die Zeitschrift „Der Spiegel“ rund um die Partei BIG recherchiert (siehe auch Graphik weiter unten). Auch bei BIG ist die Rede von der Demokratie. Im Zusammenhang mit dem türkischen Diktator will man das gern glauben. Denn dieser versteht sich selbst offensichtlich als Demokrat. Nach dem Motto: Das Volk will die Todesstrafe, was soll ich da bloß machen? Nicht wenige fragen sich, ob er einfach ein gnadenloser Zyniker ist oder an einem pathologisch bedingten Hang zu Manipulation und Lügen leidet. Oder das eine mit dem anderen zusammenhängt.
Erdoğan unterstellt Deutschland ein „Defizit bei der Meinungsfreiheit“. Klingt sehr zynisch. In Deutschland und Österreich dürften die Türken nicht demonstrieren. Ist gelogen. Ebenso, dass es ihnen teilweise verboten sei, die türkische Fahne zu hissen. Der deutsch-türkische AKP-Abgeordnete Mustafa Yeneroğlu mag den Diktator und tut es ihm nach. Er warf Behörden und Politikern am Freitag allen Ernstes vor, „das für jede Demokratie elementare Grundrecht auf Versammlungsfreiheit mit Repressalien zu torpedieren“. Zum Lachen – könnte man meinen. Indes, für die Verfolgten des Erdoğans-Regimes ist es das nicht.
Pro Erdoğan: Die Kölner Demonstration repräsentiert nur eine Minderheit
Zunächst war von 15.000 Leuten die Rede, die für Erdoğan demonstrieren. Jetzt wird mit 30.000 gerechnet. Womöglich werden es ja auch 50.000. Es klingt mehr als es ist. In Deutschland leben anderthalb Millionen türkische Staatsbürger. Da haben wir die Relation. Wenn es stimmt, dass auch Busse aus dem angrenzenden Ausland herangekarrt werden, um die Bude vollzukriegen, relativiert sich die Veranstaltung auf eine Minderheit der hier lebenden Türken. Bei den jüngeren Migrantinnen und Migranten schwimmen dem Despoten ohnehin die Felle davon.
Die 2. und 3. Generation türkischstämmiger Einwohner in unserem Land sieht die Dinge mehrheitlich anders als die Demagogen von Ankara. Sie haben offenbar den Zusammenhang von Demokratie und Rechtsstaat besser verstanden. Sie erkennen diese Interdependenz, mit den Deutschen gemeinsam. Erdoğan ist wiederholt gewählt worden. Aber waren es tatsächlich demokratische Wahlen? Wie war die Situation vor den Wahlen? Gab es eine pluralistische (Medien)Gesellschaft, die frei und unabhängig berichten – und kritisch kommentieren durfte? Gab es freien Zugang zu Informationen – in Zeitungen, Radio, Fernsehen, Internet?
Die Agonie der Demokraten gefährdet unsere Freiheit
Unsere freiheitlich-demokratische Ordnung hat kein „Türken-Problem“. Wir stehen vor ganz anderen Fragen, die tief ins demokratische Fleisch schneiden. Wir sollten unsere Grundrechte jeden Tag feiern, die uns das Grundgesetz garantiert. Nicht nur am 3. Oktober und nicht nur immer dann, wenn sie bedroht scheinen. Mit Feiern ist kämpfen gemeint. Denn das größte Problem für unsere Freiheit ist unsere eigene Agonie. Wenn tapfere Leute wie die Berliner Anwältin Seyran Ateş öffentlich gedemütigt werden und kaum jemand dagegen aufsteht, dann ist das der Niedergang der Demokratie. Klingt pathetisch. Klingt womöglich übertrieben. Voller Betroffenheit lesen wir, was die Feinde der Freiheit Frau Ateş in den sogenannten sozialen Netzwerken an Dreck entgegenschleudern. Sogar mit dem Tod drohen. Sie ist, wie sie selbst sagt, gläubige Muslimin.
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Seyran Ateş im Deutschlandfunk-Interview einen Tag vor der Kölner Demonstration für das Erdoğan-Regime:
„Ganz viele Leute aus dieser Gruppe beschimpfen zurzeit auch die sozialen Medien, unter anderem mich auch, als Hure, Schlampe, Fotze, man müsste mich umbringen, weil ich eine andere Meinung habe.“
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Dann schütteln wir uns und sind entsetzt. Dann wollen wir das nicht wahrhaben. Ebenso wenig, dass längst ein Riss durch viele Tausend Familien geht. Die UETD-Leute oder ihr Umfeld drangsalieren und bedrohen Andersdenkende. Sie akzeptieren die freiheitliche Demokratie nicht. Sie versuchen, anderen ihr eigenes und das Islambild des Undemokraten Erdoğan aufzuzwingen. Dafür gehen sie sogar bei der Kölner Demonstration auf die Straße.
Freiheit, Punkt.
Zwang indes verträgt sich mit unserer Gesellschaftsordnung einfach nicht. Das Monopol für die Anwendung von Gewalt liegt beim Staat, Punkt. Wer was dagegen hat, der möge sich an unsere unabhängigen Gerichte wenden, Punkt. Das Maul aufmachen, das darf man in unserer Gesellschaft, Punkt. Wer Bock auf eine Demo hat, melde sie an und versammle seine Leute um sich, Punkt. Wer seinen Glauben praktizieren will, der möge in Moscheen, Kirchen oder andere Gotteshäuser gehen, Punkt. Es gibt unterdessen ebenso das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung; das ist ein sogenanntes liberales Verteidigungsrecht.
Davon werden die Freiheitsliebenden in unserem Land Gebrauch machen, wenn es notwendig werden sollte. Die Verfolgten in der Türkei haben dazu keine Möglichkeit. Daher ist es die Verpflichtung von Demokraten, ihre Stimme für die zu erheben, die das gerade nicht können. Weil sie im Kerker sind oder auf der Flucht. Journalisten, Wissenschaftler, Intellektuelle, junge Leute, Unternehmer, Gewerkschafter. Der – auch innerfamiliäre – Druck ist groß für die bei uns lebenden, freiheitsliebenden Türken. Für die, die sich jedoch frei genug fühlen und unabhängig sind, reicht es nicht mehr, weiterhin nur zu beobachten. Sie müssen sich einreihen.
Seyran Ateş ist eine von ihnen. Trotz Beschimpfungen und Beleidigungen der übelsten Art. Trotz Morddrohungen. An diesem Sonntag werden viele andere gegen die Diktatur und für die liberale Demokratie auf die Straße gehen. Für Rechtsstaat und Vielfalt. Dass nicht nur Demokraten auf die Straße gehen können, sondern auch Nazis, Zyniker, Lügner und andere Extremisten: das garantiert uns unser Grundgesetz.
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