Grundgesetz | Die Verfassung muss man schützen
Unsere Verfassung geht schnurstracks auf die siebzig zu. Stolzes Alter, wenn man bedenkt, dass es nie vorher eine deutsche Demokratie so lange ausgehalten hat – mit sich selbst und anderen. Der 23. Mai ist unser „Verfassungstag“. Die Verfassung muss durch aktive Teilnahme an der Demokratie beschützt werden. Und nicht durch Hass und Ablehnung.
TS|BN 23. Mai 2017 Vor 68 Jahren wurde es in Bonn unterschrieben: das „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“. Es ist unsere Verfassung, das basic law. Die Bayern hatten sogar schon vorher ihre Verfassung. Sie trat bereits am 26. Oktober 1946 in Kraft. Bayern ging ja schon immer einen besonderen Weg, um es unparteiisch auszudrücken.
Anders als bei uns
Eine beeindruckend Eloge auf demokratische Errungenschaften hat vor wenigen Tagen der BBC-Reporter John Snow an seine Landsleute in Großbritannien gerichtet – vorn Iran aus. Dort gibt es keine faire, freie, geheime Wahl. Anders als bei uns. Dort gibt es keine freie und unabhängige Presse. Im Gegenteil: dort sitzen unzählige politische Häftlinge im Knast. Dort werden die, die antreten wollen, vorher von den obersten „Revolutionsführern“ gesiebt. Dort haben sich viele Erwartungen an den Präsidenten seit der letzten Wahl nicht erfüllt. Und doch standen die Wählerinnen und Wähler Schlange. Anders als bei uns. Sie zog sich um ganze Häuserblocks herum; so groß war der Wunsch, mitentscheiden zu können. Iran ist nicht das einzige Land, in dem die Leute von einer liberalen Demokratie träumen. Anders als bei uns. Wir haben sie schon und liegen im demokratischen Wachkoma.
Die liberale Demokratie in Deutschland ist alles andere als selbstverständlich. In den letzten Monaten kann man den Eindruck gewinnen, dass wieder mehr Bürger das erkennen. Die Stichworte dafür sind der Brexit, Trump, Orbán in Ungarn oder Erdogan in der Türkei, ebenso die undemokratischen Zuckungen der polnischen Führung. Diese Ereignisse scheinen vielen hierzulande die Vorzüge unseres Systems erst wieder in Erinnerung gerufen zu haben. Die Gefahr der rechtsextremen Frontführerin Le Pen in Frankreich dürfte ihr Übriges bewirkt haben. Warum aber benötigen wir solche Schocks überhaupt, um zu begreifen, was wir an der Demokratie haben?
Unsere Verfassung ist liberal
Allein die ersten fünf Grundgesetz-Artikel singen das Hohelied der freiheitlichen Ordnung, in der wir leben dürfen. Folgende Sätze sind oft gesagt und geschrieben worden; sie stimmen immer noch: Noch nie gab es ein liberaleres Deutschland. Niemals zuvor hat es in Deutschland und seinen Nachbarländern (ja in Europa) eine so lange Friedensperiode gegeben. Nie hatten der oder die Einzelne in unserer Gesellschaft mehr individuelle Freiheiten. Wir müssten eigentlich Tag für Tag dieses Hohelied gemeinsam singen. Ob als Opernarie, a cappella oder als Rap, das ist gleichgültig. Wir müssten jeden Tag die Fahnen schwenken. Wer ein Problem mit der schwarz-rot-goldenen hat, möge sich freundlichst eine eigene nähen.
Freiheit und Menschenrechte kommen nicht von selbst, und sie bleiben nicht von selbst. Wiederum wurde auch folgender Satz wieder und wieder gesagt: Demokratie muss stets auch wehrhaft sein. Neben all den militärischen und innerstaatlichen (Polizei)Mechanismen gibt es indes auch einen ganz anderen. Er ist nicht weniger wirkungsvolle als Militär oder Polizei; es ist die Euphorie. In Polen und Ungarn gehen gerade in diesen Wochen Zehntausende Leute auf die Straßen ihrer Hauptstädte. Sie sehen sich einer konkreten Gefährdung ihrer Liberalität und Demokratie ausgesetzt. Schlimmer noch: in beiden Ländern herrschen Regierungen, die mit der „liberalen Demokratie“ nichts anfangen können. Orbán in Ungarn ist das schrecklichste Beispiel. Für ihn existiert gar eine, wie er sagt „illiberale Demokratie„. Was für ein Zyniker!
Die Despoten in die Schranken weisen
Fast glaubte man, der Europäischen Union seien die zahllosen Verstöße gegen die Menschenrechte in Ungarn gleichgültig. Die Pressefreiheit scheint es kaum noch zu geben; ohne das Internet wäre sie mausetot. Die akademische Freiheit und Unabhängigkeit steht vor dem knock out. Nichtregierungs-Organisationen sollen in ihrer Arbeit und Finanzierung eingeschränkt werden. Zu lange geschah nichts dagegen. Jetzt endlich hat die EU ein Verfahren eingeleitet, zum ersten Mal überhaupt in diesem Kontext gegen ein eigenes Mitglied. Orbán verfährt wie Erdogan: beide nutzen und nutzten sämtlich Vorzüge einer offenen Demokratie, um an die Macht zu kommen. Dann schränken sie sich zunehmend ein. Das darf ihnen niemand durchgehen lassen. Dabei ist es gleichgültig, ob ein Flüchtlings-„Deal“ womöglich platzen könnte und auch, dass die Ungarn unsere Freunde sind.
Wer sich mit der Demokratie anlegt muss Härte spüren. Wer nicht für Liberalität ist, ist gegen sie. So einfach ist das. Wer hingegen, wie erneut am vergangenen Wochenende, in Budapest und anderen Städten Ungarns für Freiheit und Offenheit auf die Straßen geht, verdient die uneingeschränkte Unterstützung aller Demokraten. Wir haben in Deutschland genug, was es zu verbessern gibt. Aber wir haben auch alle Möglichkeiten dazu. Wir können in Parteien gehen und nicht nur über sie herziehen. Selbst in die Politik können wir gehen statt ständig nur über sie zu maulen. Wir können bei jeder verdammten Wahl unsere Stimme abgeben anstatt herumzuheulen nach dem Motto: „Die machen ja sowieso, was sie wollen.“
Wir könnten als Demokraten einmal die ganze Welt schocken, zum Beispiel bei der Bundestagswahl im September. Die höchste Wahlbeteiligung aller Bundestagswahlen anzustreben, das wäre mal was. Und den 23. Mai ab jetzt jedes Jahr feiern und nicht nur „begehen“.
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