Flüchtlingstag | Wir selbst sind die Ursache
Wieder dieser Flüchtlingstag, weltweit. Es gibt ihn seit 1914, zunächst von Papst Benedikt XV. als kirchlicher Gedenktag ausgerufen. Erst im Jahr 2000 rief die UNO den 20. Juni zum „Weltflüchtlingstag“ aus. Seither gibt es immer mehr Flüchtlinge.
TS|BN 19. Juni 2017 Das Thema hat Konjunktur. Nicht nur am 20. Juni; jeden Tag steht irgendwo irgendetwas dazu. Auf der ganzen Welt hauen Leute von zuhause ab. Sie lassen alles hinter sich. Leicht geschrieben, schwer vorzustellen. Ist ja kaum auszumalen, was das bedeutet: die Freunde hinter sich zu lassen, womöglich die ganze Familie. Die Wohnung, das Haus, die Schule, die Arbeit. Alles zum letzten Mal sehen, sprechen, fühlen.
Flüchtlingstag, Fluchtfakten
Jedes Jahr am Flüchtlingstag veröffentlicht das UNHCR (die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen) seinen Jahresbericht. Dieses Jahr gab es wieder widerliche Rekorde zu vermelden. Wie in den vergangenen Jahren auch. Noch nie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren so viele Menschen auf der Flucht. Wir Europäer kriegen das inzwischen auch mit. Das war längst nicht immer so. Wer interessierte sich schon für den Krieg in Syrien, bevor die ganz große Katastrophe begann? Aber jetzt kommen in einer Gegend Flüchtlinge an, die wir sonst eher mit dem Begriff Urlaub verbinden: dem Mittelmeer.
Allgemein über „das Flüchtlingsproblem“ zu quatschen, hilft gar nichts. Es sind zwar Tausende seit Jahr und Tag auch in Deutschland engagiert. Ohne Regierung, ohne Steuermittel, ohne Unterstützung. Vor denen hebt man am besten den ganzen Tag den Hut, und das mindestens 365 mal im Jahr. Gleichwohl scheint die übergroße Mehrheit des Publikums immer noch vor einem Rätsel zu stehen, wenn es um den Flüchtlingstag geht – oder vor jedem Tag, an dem es um Flüchtlinge geht. Dabei ist es wirklich einfach, das Ganze.
Flüchtlingstag, Fluchtursachen
Offen gestanden kann ich folgende Sätze nicht mehr hören: „Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen.“ Oder: „Wir müssen den kriminellen Schleuserbanden das Handwerk legen.“ So notwendig diese Aufgaben sein mögen, so falsch ist das Denken dahinter. Denn wenn hierzulande über Ursachen gesprochen wird, sind meist nur Gründe gemeint. Das ist ein essentieller Unterschied. Schleuserbanden sind die Folgen der Ursachen, also nur die Gründe von Fluchtbewegungen. Die wahren Ursachen sind Krieg, Hunger, Klimaveränderungen, Armut, Korruption. Für all diese Komponenten tragen wir – mindestens – eine erhebliche Mitverantwortung. Die falschen Begriffe vernebeln einem ganz schön oft das Gehirn.
Wir müssen uns endlich ehrlich machen. Denn weil wir so leben wie wir leben, machen sich auf den Weg zu uns. Selbst der Krieg in Syrien liegt auch in unserer Verantwortung, also in der der einflussreichen Mächte. Solange sich die USA, Russland, die Europäische Union nicht einigen, wird es dort Krieg geben. Ergo sind auch wir mit verantwortlich für diesen Krieg und die Folgen. Dabei nehmen wir als Europäer nicht einmal die meisten Flüchtlinge auf. Das Gegenteil ist richtig. Mehr als fünf Millionen Syrer leben derzeit in ihren Nachbarstaaten. Das macht sie, so das UNHCR, zur größten Flüchtlingsgruppe der Welt. Noch einmal 6,3 Millionen Syrer sind in ihrem eigenen Land auf der Flucht. Man nennt das „Binnenflüchtlinge“.
Flüchtlingstag, Flüchtlingsstop
Die Syrer stehen als Beispiel gerade im Fokus. All die anderen Länder, die betroffen sind, kennen wir kaum. Nicht mal vom Hörensagen. Sie blitzen mal kurz auf, in den Nachrichten vielleicht. Aber wir suchen sie nicht. Wir googeln sie nicht. Ebensowenig suchen wir nach anderen Dingen. Wir schustern uns unsere eigene Wirklichkeit. Bei Facebook suchen wir Entspannung, selten die Konfrontation mit der Realität. Oder wer kann von sich sagen, dass er sich dort regelmäßig vom UNHCR oder anderen Organisationen informieren lässt – noch bevor er die leichte Kost der Like-Häppchen konsumiert. Ich kenne wenige. Das Verhalten anderer habe ich nicht zu kritisieren. Bin auch kein Heiliger oder sonstwas. Mir fallen bloß Dinge auf, die mich irritieren. Vor allem stört mich, wenn ich für dumm verkauft werde.
Ich bin für den totalen Flüchtlingsstop. Dafür, dass kein einziger Mensch mehr seine Heimat verlassen muss. Jede/r sollte bei sich zuhause das Leben führen können, dass er oder sie sich wünscht. In Würde und in Frieden und in Freiheit. So wie wir das hierzulande im Großen und Ganzen schon lange können. Geht nicht? Unrealistisch? Naiv? Kann alles sein. Dennoch ist diese Perspektive die einzige, die die Leute davon abhielte, von zuhause abzuhauen.
Flüchtlingstag, Heimat
Dazu müssten wir bloß etwas von dem abgeben, was wir selbst besitzen. In einem anderen Artikel werde ich diese Vorstellungen einmal detaillierter ausführen. Jedenfalls geben Millionen Flüchtlinge und Migranten viel von dem wieder ab, was sie in der Ferne verdienen (siehe Grafik) und schicken fast eine halbe Billion Dollar nachhause. Dadurch können ihre Familien ein besseres Leben führen. Die reichen Ländern geben viel zu wenig her für würdiges Leben auf anderen Kontinenten als ihren eigenen. Oft liegen diese reichen Länder im sogenannten „Christlichen Abendland“.
In dem Dorf, aus dem ich stamme, leben um die 1500 Leute, vielleicht ein paar mehr. In den vergangenen Monaten habe ich mir vorgestellt, es würden alle ertrunken sein. Vor einigen Wochen war das die Zahl derer, die im Mittelmeer umgekommen sind. Nur in diesem Jahr, seit Januar. Inzwischen sind es über 1800 Flüchtlinge, die ihre Sehnsucht nach einem würdigen Leben mit dem Tod durch Ertrinken bezahlt haben. Vor ein paar Tagen las ich, dass sechs Kinder in der Sahara verdurstet sind, zusammen mit ihren Müttern. Das sind nur die, von denen man weiß. Die berühmte Dunkelziffer ist nach Angaben von Hilfsorganisation extrem höher.
In meinem Heimatdorf leben einige Flüchtlingsfamilien. Sie haben es bis nach Leubsdorf am Rhein geschafft. Es ist ein beschauliches, freundliches Völkchen, das dort lebt. Die Leute passen aufeinander auf. Viele Familien leben dort. Nach dem, was ich von dort höre, geht es den Flüchtlingen da ganz gut. Noch besser wäre, sie könnten zuhause ein gutes Leben führen. Ohne sie gefragt zu haben bin ich davon überzeugt, dass sie das lieber würden als – gezwungenermaßen – in einem fremden Land zu sein.
Das Wort Heimat gibt es so nur in der deutschen Sprache. Es zu übersetzen ist kaum möglich; bedeutet es doch weit mehr als das Haus, die Wohnung, das Dorf, die Stadt, in der man lebt. Die Millionen Flüchtlinge, an die wir besonders am 20. Juni denken, haben ihre Heimat verloren. Sie wurden gezwungen, von zuhause wegzugehen. Fragen wir jeden, der bei den Wahlen im September AfD wählen will, was er oder sie dazu sagt. Machen wir unsere Entscheidung, wen wir wählen, auch davon abhängig, wer was für oder gegen Flüchtlinge tut.
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