Slum | Die Lifeline und die Menschlichkeit
Wie auch immer das Gericht in Malta entscheiden wird: die Lifeline ist gleichzeitig zum Synonym für die Humanität und das Versagen Europas geworden. Und im Slum von Korogocho sehnen sie sich danach, zuhause bleiben zu können und nicht fliehen zu müssen.
TS|BN 29. Juli 2018 Es muss ein starker Impuls sein, der die Menschen auf hohe See treibt. Der sie sich dem Tod aussetzen lässt. Ein Impuls, der nur dadurch zu erklären ist, dass sie ein besseres Leben ersehnen. Dabei geht es natürlich nicht um „Tourismus“, wie zynischerweise der bayerische Regierungschef insinuiert. Es geht ums Überleben.
Gespaltenes, globales Dorf
Überleben bedeutet mehr als das, was wir hierzulande landläufig als ein „besseres Leben“ bezeichnen würden. Es impliziert faire Chancen für jedermann, in jeder Hinsicht. Beim Besuch eines Slums in Nairobi konnte ich mich unlängst erst wieder davon überzeugen, was das bedeutet. Slum bedeutet Elendsviertel; die englische Übersetzung drückt nicht wirklich aus, wie die Lebenswirklichkeit dort ist. In Korogocho, jenem Slum also, den ich besucht habe, leben etwa 300.000 Menschen. Das sind unwesentlich weniger als in meiner Heimatstadt Bonn (327.000).
Wenn diese Welt wirklich ein „globales Dorf“ ist, lohnt einmal ein Blick über die Gartenhecke hinüber zum „Nachbarn“.
Aus der Schulstatistik der Stadt Bonn (2017/18) geht hervor, dass es in Bonn 102 Bildungseinrichtungen gibt; 87 davon alleine städtisch geführt. Über 52.000 Bonner Kinder gehen in eine dieser Schulen. Von der Grund- über Förder- oder Realschulen ist das Angebot riesig. Hinzu kommen natürlich Gymnasien, Gesamtschulen oder Waldorfeinrichtungen. Es ergibt Sinn, hier auf die andere Bildungsmöglichkeiten hinzuweisen: Fachoberschule, Berufskolleg, Berufs- und Fachschule sind weitere Chancen.
Die „Lifeline“ und der Slum
Im Korogocho-Slum von Nairobi träumen Jugendliche und Eltern von solch einer Auswahl. In dem Slum-„Dorf“ Ngomongo leben gut 60.000 Menschen. Exakte Zahlen sind nicht zu erhalten. Wer interessiert sich schon für Elendsviertel? In diesem Dorf Ngomongo also habe ich mich knapp zwei Wochen im Frühjahr dieses Jahres täglich aufgehalten. Die Einwohnerzahl liegt etwas unter der von Beuel, dem rechtsrheinischen Stadtbezirk Bonns (67.000). Der Unterschied zwischen Ngomongo und Beuel liegt allerdings nicht nur in der Geographie. Es gibt dort keine einzige staatlich finanzierte Schule. Mit anderen Worten: es gibt für keinen der Jungen und Mädchen irgendeine Perspektive, aus diesem Elend herauszukommen.
Das, so wird häufig eingewandt, könne „man ja aber auch irgendwie nicht miteinander vergleichen“. Hier in Deutschland und da in Afrika, das sei ja nun wirklich etwas ganz anderes. Das, so lautet meine stereotype Antwort dann, kann „man wohl sagen“.
Internet zwingt zusammen
Die Displays mögen zerbrochen sein, die Tastaturen kaum noch zu bedienen und der Akku mag nur noch maximal eine Stunde halten. Dennoch haben junge Afrikaner, auch die in Ngomongo, einen recht guten Einblick in das Leben der Reichen. Jedes Youtube- oder Vimeo-Video, jede Nachrichtenseite, jede offizielle Statistik Europas: jeder und jede kann wissen, wie gut es uns Menschen im „globalen Norden“ (welch ein Schwachsinnswort!) geht. Selbst Analphabeten können sich ein Bild machen, weil sie die bunte, lockere Lebensart hierzulande in Videos bestaunen können. Und sie machen sich ein Bild davon, wie mit Leuten wie dem Lifeline-Kapitän umgesprungen wird.
Und plötzlich kommt einem der irre Gedanke: so will ich auch leben. Solche Chancen will ich auch haben. So will ich mich auch entwickeln können. Dann macht er oder sie sich auf den Weg ins gelobte Europa. Das nennen die Rassisten, Unchristen und CSU-Oberen dann „Wirtschaftsflüchtlinge“. Ganz so, als ob ein Jugendlicher aus Spanien lieber nach Deutschland kommt, weil seine Möglichkeiten hier besser sind als zuhause.
[grey_box] Ist einer schwarz, kommt eine aus Ngomongo, hat jemand eine andere Kultur oder einfach nichts zu essen zuhause: dann wird er zu einem der Asylanten gestempelt, die wir „doch wirklich nicht alle bei uns aufnehmen können“ [/grey_box]
Fluchtursachen: gefährliches Wort
Viel ist von der „Bekämpfung der Fluchtursachen“ die Rede, wenn es um die Reduzierung von Flüchtlingszahlen geht. Dabei liegt der Fokus eher darauf, Leute wie den Lifeline-Kapitän hinter Gitter zu bringen. Wenigstens möchten nicht wenige in Politik und Justiz Leute wie Claus-Peter Reisch diskreditieren. Das ist eine Schande. Während das Wortungetüm „Fluchtursachenbekämpfung“ die Runde macht, verrecken Flüchtlinge auf Booten im Mittelmeer.
Jugendlichen wie Judy oder Gordon oder Lucas oder Mary in Ngomongo, jenem Slum-Dorf in Nairobi, in dem es keine Schule gibt: ihnen hilft das Geschwätz von der Bekämpfung der Ursachen keine Millisekunde. Ihnen hülfe eine Schule, und noch eine Schule und gut bezahlte Lehrer und stabile Gebäude für diese Schulen. Dann könnten sie lernen und sich selbst ein besseres Leben aufbauen als jenes, das sie jetzt in ihren Hütten fristen müssen. Sie müssten nicht ständig um das Wesentliche bitten. Und sicher würden sie sich darum kümmern, die offene Müllhalde neben dem Dorf verschwinden zu lassen (siehe Foto). Dort wird unter freiem Himmel der Dreck der Reichen „entsorgt“.
Faires Leben auch im Slum
Die wichtigste Fluchtursache, die es zu bekämpfen gilt, sind wir selbst. Wir beuten weiter fröhlich aus. Wir überfliegen auf dem Weg in unser Urlaubsdomizil die Slums dieser Erde und denken nicht einmal darüber nach. Wir führen ein wohliges Leben und haben die besten Chancen, die je eine deutsche (und europäische) Gesellschaft hatte. Jedem sei sein Urlaub gegönnt. Jedem und jeder soll Arbeit haben und Schulen und Krankenhäuser und Pflege im Alter.
Jede und jeder hat das Recht auf ein gutes, faires Leben – besser und fairer jedenfalls als eins in einem Elendsviertel.
[grey_box] Just in case: wer eine beeindruckende Initiative von Slum-Bewohnern kennen lernen möchte, der sollte sich die AYiERA iNiTiATiVE einmal ansehen. [/grey_box]
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