Sozialismus | Kühnert wurde Zeit
Die Thesen von Kevin Kühnert haben es in sich. Und obwohl der Sozialismus nicht jedermanns Sache ist, grenzt das, was es an Reaktionen auf ihn gab, an Hysterie.
Was der Bezirksverordnete Kevin Kühnert aus Tempelhof-Schöneberg da losgetreten hat, ist mehr als nur die Frage nach dem Sozialismus. Ein gutes, äußerst aktuelles Gesprächsthema, denn die SPD diskutiert es derzeit recht intensiv. Die Fragen der Wochenzeitschrift „Die Zeit“: brillant; die Antworten intelligent. Angesichts der Heftigkeit der Reaktionen muss allerdings die Frage gestellt werden: Kann Deutschland überhaupt noch diskutieren? Zweifel sind mehr als angebracht.
Wenn Genossen am Rad drehen
Ob man den Sozialismus gut findet oder nicht – oder Kühnert oder nicht: das scheint angesichts der Heftigkeit der Reaktionen fast belanglos zu sein. Da hatte die Redaktion der „Zeit“ eine wirklich gut Idee und lud den Chef der Jungsozialisten, Kevin Kühnert, zu einem Interview ein. Überschrift in Frageform, an Kühnert gerichtet: „Was ist für Sie Sozialismus“? Da hatten sie sich den Richtigen eingeladen. Denn Frau Nahles oder Herr Scholz, ebenso der eitle und (und auch deshalb) gescheiterte Sigmar Gabriel aus Hannover, sie würden vermutlich nicht einmal die Frage wirklich verstehen. Gabriel womöglich doch, aber der hat Erinnerungslücken. Kühnert würde nie der Versuchung der Partei „Die Linke“ erliegen, sich aufs Populismusterrain zu begeben, um „Punkte zu machen“. Stattdessen formuliert er schwer verdauliches Zeug für viele.
Gabriel hatte sich übrigens als „Falken“-Chef noch deutlicher als Kühnert heute geäußert. In der TV-Talkshow „Maischberger“ damit konfrontiert wiegelte er ab und relativierte. Das sei etwas anderes gewesen, das müsse man im Kontext verstehen und so weiter. Stattdessen eine inhaltsleere Klatsche an den Vorsitzenden der Jung-Sozialisten: der sei ein Ego. Ausgerechnet Gabriel! Das war der Mann, der als SPD-Vorsitzender nicht selten die komplette Partei mit seinen Alleingängen irritiert hat. Der nach Berichten von Leuten aus seiner Umgebung herrisch sein konnte (und kann?) und der keinerlei Widerspruch duldet(e).
Sozialismus nach SPD-Art
Auch von einem anderen Satz wollte er nichts mehr wissen. Dieses Gabriel-Zitat hat es ebenfalls in sich. An Deutlichkeit und innerer Überzeugung strotzt es nur so. Es ist zudem in einer Sprache geäußert, derer sich Kühnert nie bedient hat. Gabriel sagte, ebenfalls 1985: „Kapitalistische Wirtschaftspolitik ist und bleibt menschenverachtend.“ Und anstatt heute Verständnis für die Sozialismus-Thesen zu zeigen, watscht er den nicht einmal Dreißigjährigen bigott und arrogant ab. So geht Diskussion nicht.
„Getroffener Hund bellt“ – es ist ein uraltes Sprichwort. Es passt zu dieser „Diskussion“, die eigentlich nur ein äußerst aggressiver Reflex der meisten Teilnehmer ist. Es soll beschreiben, dass unsichere Leute sich zu Reaktionen hinreißen lassen, die als unwirsch beschrieben werden könnten. So wie beispielsweise jener Sozialdemokrat, der dem eher „rechten“ Flügel seiner Partei zuzuordnen ist: Johannes Kahrs. Kaum waren auch nur die Auszüge aus dem Kühnert- Interview in der „Zeit“ publik, twitterte der: „Was hat der geraucht? Legal kann es nicht gewesen sein.“ Welch inhaltliche Wüste!
Enteignung auf bayrisch
Selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung konzedierte einst, dass „Enteignungen nach dem Grundgesetz ausdrücklich erlaubt“ seien. Das sei dann der Fall, so erläutert die Zeitung 2009, wenn diese „zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“. Damals, vor zehn Jahren also, ging es um die sogenannte Schieflage der Hypo Real Estate-Bank. In der „Welt“ äußerte sich damals sogar der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Hans Papier, zu dieser Frage. Er schloss Enteignungen ebensowenig aus: „Dieser Entzug muss aber die Ultima Ratio sein, es darf also kein freihändiger Erwerb durch den Staat in Betracht kommen.“ Bis heute ist Enteignung auch ausdrücklich in der bayerischen Verfassung vorgesehen. Enteignung, Vergesellschaftung, Verstaatlichung: das ist offensichtlich sogar in Bayern keinesfalls tabuisiert, wenn es dem Wohl der Allgemeinheit dient.
„Für die Allgemeinheit lebenswichtige Produktionsmittel, Großbanken und Versicherungsunternehmen können in Gemeineigentum übergeführt werden, wenn die Rücksicht auf die Gesamtheit es erfordert. „
Bayerische Verfassung, Artikel 160, Absatz 2
In ein Vakuum stößt Kühnert mit seinen utopischen Vorstellungen vom Sozialismus. Es spiegelt die verringerte Akzeptanz der „sozialen Marktwirtschaft“. Vakuum führt nicht selten zur Akzeptanz politischer Ideen, mögen sie völlig neu oder uralt sein. Die Erläuterungen Kühnerts sind dafür ein Beleg. Es gibt nicht wenige DAX-Vorstände, die 50 (in Worten: fünfzig) Mal so viel verdienen wie ein durchschnittlich bezahlter Angestellter. Das wissen viele; auch die SPD weiß das. Sie diskutiert es aber nicht, jedenfalls nicht glaubhaft. Denn das würde bedeuten, dieser Ungerechtigkeit konkrete, mehr Gerechtigkeit schaffende Politik entgegenzusetzen. Bisher: Fehlanzeige. Was aber muss noch passieren, damit die Sozial-Demokraten sich der ungerechten Verteilung von Gütern, Geld, Kapital, Wohneigentum und dergleichen mit voller Kraft entgegenstellen? Wird es dann sein, wenn es ausschließlich nur noch Oligopole gibt? Kühnert wurde Zeit.
Die CDU und der Sozialismus
Die deutsche Sozialdemokratie spricht in ihrem Grundsatzprogramm von einem „demokratischen Sozialismus“. Das ist nicht neu, nicht erschreckend und ebenso wenig Grund, in Hysterie zu verfallen. Wenn nun ausgerechnet der JUSO-Chef von Sozialismus spricht, ist das eigentlich die normalste Sache der Welt. Weder ist es ein Ego-Trip noch muss man dazu illegale Substanzen geraucht haben. All diese Diskussionsbeiträge fallen wegen offensichtlicher Inhaltsdefizite komplett aus. Und ob gerade Europa-, Landtags- oder Kommunalwahlen anstehen, das ist längst kein Kriterium mehr, überfällige Diskussion wieder und wieder zu verschieben. Daran sollte sich die classe politique gewöhnen. Die Generationen unter 40 haben mit derlei Politlogik nicht mehr viel am Hut.
Als das Grundgesetz vor bald siebzig Jahren verabschiedet wurde, war von Sozialismus nicht die Rede. Indes hatten sich einflussreiche CDU-Leute im westfälischen Ahlen getroffen, um über eine neue Wirtschaftsordnung nach dem Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkriegs zu debattieren. Dabei ist das „Ahlener Programm“ herausgekommen. In dessen Präambel heißt es: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.“ Starker Tobak könnte man raunen, immerhin handelt es sich hier nicht um Kevin Kühnert oder den jungen Gabriel. Das war reiner CDU-Text.
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Selbstredend könnte man jetzt einwenden: das war 1947, noch zwei Jahre vor dem Grundgesetz. Diese Texte seien in der Schockstarre nach dem Nationalsozialismus entstanden. Sie hätten heute in der CDU – und schon gar nicht in der CSU – irgendeine Bedeutung mehr. Man dürfe, so könnte die Argumentation weitergehen, daraus nicht einen Anti-Marktwirtschaftskurs ableiten. Allein, das will auch niemand. Gewiss auch nicht der heutige NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU). Im Gegenteil. Als vor zwei Jahren, also 2017, der 70. Geburtstag des „Ahlener Programms“ begangen wurde, sagte er:
„Zusammen mit den Düsseldorfer Leitsätzen von 1949 bildete das Ahlener Programm die programmatische Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft… So geht die in Artikel 15 unseres Grundgesetzes verankerte Sozialpflichtigkeit des Eigentums … auf das Ahlener Programm zurück …“
Armin Laschet, 2017
Kühnert, Ahlen und die soziale Marktwirtschaft
Nein, niemand muss Sozialismus wollen oder fordern. Und niemand Kevin Kühnert mögen. Gleichwohl darf jede/r kritische Fragen stellen und Utopien formulieren. Man wünscht sich mehr aus der Generation Kühnerts, die – aus ihrer Sicht – durchdachte Ideen formulieren. Präzise, klare, diskussionsfähige. Es geht nicht um die Einführung des Sozialismus, schon gar nicht von heute auf morgen. Ebenso wenig geht es darum, den Leuten ihr hart erarbeitetes Eigentum zu stehlen. Worum es geht, ist das: der Marktwirtschaft wieder zu mehr Akzeptanz zu verhelfen, sie wieder stärker zu einer sozialen zu machen. Denn sie ist die einzige Ordnung, in der Gerechtigkeit einigermaßen fair hergestellt werden kann – so sie denn sozial organisiert ist.
Je mehr aber den Eindruck gewinnen müssen, dass es immer ungerechter zugeht, desto mehr werden den Thesen Kevin Kühnerts womöglich folgen – über kurz oder lang.
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