Als Menschenrechte bekämpft wurden: Stasi-Akten in Berlin | Foto © BStU

Menschenrechte | Der Wert liberaler Demokratie

Roland Jahn ist ein guter Gesprächspartner. Beim Thema Menschenrechte gilt das allemal. Er selbst stammt aus Jena und hat das SED-Regime in seiner Jugend bis aufs Messer gereizt. Bis er ihnen zu gefährlich wurde mit seiner Kreativität und Konsequenz. Sie zwangen ihn kurzerhand in einen Zug Richtung Westen und fesselten ihn. Im Abteil konnte er sich nicht befreien. Erst, als er im Westen angekommen war, wurden ihm die Handschellen wieder abgenommen – in der Freiheit.

Roland Jahn, Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR | Foto © BStU

„Es geht um Demokratie
und Menschenrechte“


In West-Berlin arbeitete Roland Jahn in den 1980er und 1990er Jahren für den „Sender Freies Berlin“, der später im „RBB“ aufging. In dieser Zeit hielt er ständigen Kontakt zu Vertretern der Menschenrechte in Ost-Berlin und der DDR. Seit fast zehn Jahren ist Roland Jahn verantwortlich für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR. Noch immer gehen bei der „Stasi-Unterlagen-Behörde“ durchschnittlich jeden Monat weit über 3000 Anträge auf Akten-Einsicht ein. Betroffene, Journalisten, Wissenschaftler oder Angehörige von Verstorbenen wollen die Wahrheit über das Unrechts-System DDR erfahren.

Der Chef der Stasi-Unterlagen hat gerade eine Mammutaufgabe bewältigt. Er hat entscheidend mit dafür gesorgt, dass die Akten digitalisiert und noch Jahrzehnte verfügbar bleiben werden. Sie werden in die Verantwortung des Bundesarchivs übergehen. Die Behörde, wie wir sie kennen, wird es zwar nicht mehr geben. Dafür werden an mehr Orten in Deutschland mehr Leute schneller mehr Einsichten erlangen als je zuvor.

Anlass für das Gespräch mit Roland Jahn war der jährliche „Internationale Tag der Menschenrechte“ am 10. Dezember. Würden die Menschenrechte überall und jeden Tag gelten, bräuchte niemand so einen Tag. Die Realität indes ist bitter, fast überall und fast jeden Tag. Deshalb ist er wichtig. Man sollte ihn jeden Tag begehen, nicht nur ein Mal im Jahr.

Alle in diesem Artikel verwendeten redaktionellen Fotos unterliegen dem Coyright der Stasi-Unterlagenbehörde (BStU).

Verstöße gegen die Menschenrechte: Die Stasi-Unterlagen | Foto © BStU

„Die Nähe zu den Opfern der Diktatur“


FRAGE
Sie sind auf Joachim Gauck und Marianne Birthler gefolgt, das waren große Schuhe. Im kommenden Jahr werden Sie zehn Jahre Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen sein. Ziehen Sie doch jetzt schon eine Art Vor-Bilanz für uns. Welche Akzente konnten Sie setzen? Und: Sehen Sie als ehemaliger Journalist „die Dinge“ vielleicht anders als ein ehemaliger Pfarrer und eine ebenfalls im kirchlichen Umfeld sehr aktive Frau?

ROLAND JAHN
Das Amt des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen ist ja gerade so angelegt, dass die jeweiligen Amtsinhaber eigene Akzente setzen können. Und das hat jeder für seine Zeit auf seine Art getan. Die Gesellschaft der 90er Jahre war dabei sicherlich eine andere als die der 00er oder jetzt der 10er. Zudem steht ein großes Team hinter jedem der drei Beauftragten, dass es ermöglicht hat, dass die Aufgaben der Aktennutzung erledigt wurden.

Vielleicht hat meine journalistische Vergangenheit dazu geführt, dass für mich das Prinzip des Hinterfragens auch bei der Aufklärung über die Vergangenheit und im Arbeitsalltag eine wichtige Rolle gespielt hat. Aber uns allen dreien war es wichtig, dass wir die Akten der Gesellschaft zur Verfügung stellen können. Und uns verbindet sicherlich auch die Nähe zu den Opfern der SED-Diktatur.

https://www.youtube.com/watch?v=nwFMCXXggsc

FRAGE
Ist vielleicht der bedeutendste Akzent das, was Kritiker die „Auflösung der Stasiunterlagen-Behörde“ nennen?

ROLAND JAHN
Das kommt auf den Blickwinkel an. Es geht aus meiner Sicht darum, für die Zukunft gerüstet zu sein, darum, sich weiterzuentwickeln. Ich habe zur Erklärung des Reformprojekts oft meinen Freund Wolf Biermann zitiert, der in einem Lied sagt: „Wer sich ändert bleibt sich treu.“ Ich bin zu der Einsicht gelangt, dass wir jetzt die Weichen für die nächsten Jahrzehnte stellen müssen und da ging es insbesondere darum darüber nachzudenken, wie die nächsten Generationen diese Akten bestmöglich nutzen können.

Das Bundesarchiv bietet dazu die notwendige langfristige Perspektive. Zudem ist es dringend an der Zeit, dass wir uns von der Fixierung auf die Stasi lösen, wenn wir die DDR untersuchen. Im Bundesarchiv sind wir Teil der gesamten Überlieferung, damit wird die SED-Diktatur als Ganzes in den Blick gerückt. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir den besonderen historischen Charakter und Symbolwert des Stasi-Unterlagen-Archivs gleichzeitig weiter herausstellen können. Das übrigens auch ein Auftrag des Bundestags an unsere Arbeit im Bundesarchiv.

FRAGE
Wenn Sie sagen: „Wir verdoppeln jetzt unsere Kraft“, können Sie das vor allem für jene erläutern, die bisher noch kaum Interesse an den Stasi-Akten zeigten? Sie wollen ja im Grund mehr Leute erreichen als bisher, wenn ich Sie richtig verstanden habe.

ROLAND JAHN
Das darf gern passieren, aber mir geht es vor allem darum, dass die Chance erkannt wird, dass man dieses Archiv vor allem auch für die heutige Gesellschaft nutzen kann. Es geht dabei ja nicht nur um die Stasi. Es geht um die Werte von Demokratie und Menschenrechten. Dieses Archiv dokumentiert, wie Menschenrechte systematisch unterdrückt wurden, aber auch wie Menschen in der Diktatur für ihre Rechte gekämpft haben. Es steht für die Repression, aber auch dafür, dass die Diktatur überwindbar ist, wenn Menschen ihre Angst verlieren. Sich zu sensibilisieren für die Werte der Demokratie und der Menschenrechte, dafür ist das Archiv eine besonders intensive Ressource.

Selbst ein Kämpfer für die Menschenrechte: Roiland Jahn, Beauftragter des Bundes für die Stasi-Akten | Foto © BStU

„Ossi-Wessi-Kategorien haben noch nie mein Denken bestimmt“


FRAGE
Gilt für Sie noch „West-Ost“? Müssten wir nicht längst eher dazu übergegangen sein, statt dieser Wessi-Ossi-Debatte eine Diktatur-Demokratie-Diskussion zu führen?

ROLAND JAHN
Dem kann ich nur zustimmen. Diese Ossi-Wessi-Kategorien haben noch nie mein Denken bestimmt. Und je länger wir in einem gemeinsamen Land leben, desto künstlicher finde ich sie. Ich sehe wer solche Debatten instrumentalisiert, aber da denke ich eher, es fehlen sonstige Ideen, politische Probleme zu lesen. Gruppen zu bilden, die sich gegeneinander definieren, sind keine Lösung. Feindbilder zu bauen, das sind die Werkzeuge der Diktatur. Aber über die Werte von Demokratie zu streiten, das Zusammenleben zu organisieren, den anderen zu respektieren und das Miteinander friedlich zu gestalten, dass ist die Herausforderung der Demokratie.

FRAGE
Angesichts der Zustimmungsraten zu AfD, Pegida und anderen rechtsradikalen Gruppierungen und Parteien, die im Osten des Landes deutlich höher sind als im Westen, stellt sich für mich die Frage nach der Kompetenz zur Liberalen Demokratie. Sie sind ja in der DDR geboren und waren dort als Menschenrechts-Aktivist äußerst aktiv. Sie kennen beide Welten aus eigener Anschauung. Im Westen sozialisierte Menschen können ja meist nicht verstehen, warum „die DDR-Bürger“ so stark für antidemokratische Konzepte stimmen. Erklären Sie uns das bitte.

ROLAND JAHN
Ja, so stellt man sich das vor, da gibt es einen Welterklärer (lächelt). Aber Demokratie heißt ja auch, unterschiedliche Sichtweisen aushalten, das gemeinsame suchen und sich annähern. Aus der eigenen Erfahrung stellt sich das auch anders dar als in den Medienschlagzeilen. Ich kenne genügend Menschen im Osten des Landes, denen die errungenen Werte von Demokratie enorm wichtig sind, die sie auch täglich achten.

Und im Westen kenne ich auch Menschen, die sich lieber eine starke Hand wünschen als die Komplexität einer multikulturellen Gesellschaft auszuhandeln. Wahlergebnisse haben nicht immer etwas mit konkreten politischen Weltbildern zu tun, sondern auch mit Befindlichkeiten. Da hat eine DDR-Prägung nicht automatisch etwas mit Demokratie-Defizit zu tun und eine West-Prägung nicht automatisch etwas mit Demokratieverwurzelung.

FRAGE
Sie haben einmal gesagt: „Wir sollten uns mehr mit dem Alltag in der Diktatur beschäftigen, mit den Mechanismen der Anpassung, mit dem System der Angst“. Wie geht sowas? Und wer muss, soll das realisieren – und mit welchen Instrumenten?

ROLAND JAHN
Alle, die diese Erfahrung gemacht haben, Teil dieser DDR-Gesellschaft waren, sind dazu aufgerufen, sich an diesem Diskurs zu beteiligen. Diktatur funktioniert ja nicht allein über Stasi und Knast, sondern vor allem auch im Alltag: in der Schule, auf der Arbeit, in den Kultureinrichtungen, manchmal sogar in der eigenen Familie. Aus Angst vor Nachteilen in der persönlichen Entwicklung verhalten sich Menschen entgegen ihrer eigenen Überzeugung.

Sich das bewusst zu machen, heißt sich im Nachhinein zu hinterfragen, ob man sich auch hätte anders verhalten können. Auch zu erkennen, dass auch vorgespielte Bekenntnisse zum Staat, wie der Gang zur sogenannten Wahl, die Diktatur stabilisiert haben. Wo liegen die Ursachen dafür, dass man sich davon nicht frei machen konnte? Es geht um individuelle Verantwortung für das eigene Handeln und das gilt ja auch heute.

In der DDR, als Journalist und auch jetzt - ein Kämpfer für die Menschenrechte: Roiland Jahn, Beauftragter des Bundes für die Stasi-Akten | Foto © BStU

„Sich der Werte der Menschenrechte vergewissern“


FRAGE
In diesem Jahr haben wir an den 30. Jahrestag der Wiedervereinigung gedacht. Im vergangenen haben wir den 30. Jahrestag des Mauerfalls gefeiert. Sie haben in einer Rede im vergangenen Jahr in Kassel über das Erinnern gesprochen, wie wichtig es ist und was dieses Erinnern sein kann. Sicher doch kein Selbstzweck?

ROLAND JAHN
Erinnern ist eine Chance, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und sie nicht zu wiederholen. Erinnern kann aber auch Kraftquell sein, aus negativ erlebtem Kraft zu schöpfen, weil man weiß, dass man auch schlimme Situationen überstehen kann. Und Erinnern gibt Identität, zu wissen, woher man kommt, um zu entscheiden, wohin man will. Es verortet einen als Person, aber auch als Gesellschaft.

FRAGE
Eine letzte Frage: Sie „verdoppeln“ die Kraft der Erinnerung mit den gerade beschlossenen Neuerungen des Stasi-Unterlagen-Archivs, sagen Sie. Der Zugang wird verbreitert und – auch im Westen – näher an die Leute gebracht. Nehmen wir einmal an, Sie könnten in die Zukunft schauen. Wird es in 30 Jahren, von heute aus gesehen, immer noch ein Interesse an der DDR-Diktatur geben, an den Akten der Stasi?

ROLAND JAHN
Davon gehe ich fest aus. Das Stasi-Unterlagen-Archiv ist Teil des „Gedächtnisses der Nation“ und auch die nächsten Generationen sind gut beraten, das Gedächtnis zu befragen, wenn man Probleme der Gesellschaft lösen will. Das Stasi-Unterlagen-Archiv ist ein Monument der Menschenrechtsverletzungen, aber auch eine wichtige Dokumentation des Aufbegehrens dagegen. Es ist auch in 30 Jahren noch wichtig, dass sich Menschen der Werte der Menschenrechte vergewissern können.

Herr Jahn, vielen Dank für das Gespräch.

Geschenk-Tipp für
Freiheits-Freunde

Menschenrechte unter der Stasi-Diktatur: Neues Buch von Thomas Schwarz
WO RECHT ZU UNRECHT WIRD |
BEGEGNUNGEN MIT DER STAATSSICHERHEIT DER DDR
Von Thomas Schwarz

Mit einem Geleitwort von Rainer Eppelmann
Erschienen im Bouvier-Verlag Bonn

Stimmen zum Buch

Die Internet-Zeitung „NR-Kurier“ schreibt:

„Es macht Freude, diese Lebenserinnerungen des Journalisten mit Haltung zu lesen. Der Lebensweg des politischen Berichterstatters bleibt spannend und am Ende ist klar, warum ihm die Einreise in die DDR verwehrt wurde.“

In seinem Geleitwort zum Buch schreibt Rainer Eppelmann, Vorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur:

„Thomas Schwarz vermag es, mit seinen ebenso spannenden wie unterhaltsamen Erinnerungen einen einmaligen Eindruck davon zu vermitteln, wie sich die Oppositionsbewegung in der DDR der 1980er-Jahre aus der Sicht eines westdeutschen Journalisten und politisch denkenden Menschen in zahlreichen Begegnungen und gewachsenen Verbindungen darstellte.“

Aus der Mail eines pakistanischen Menschenrechtlers:

„… reading English excerpts of your book and found these last lines are the deepest and the best … („Freedom does not just happen. It never comes inevitably and never stays of its own accord. We have to fight for it if we don’t want to lose it again“) … among other beautiful thoughts you have pen down, great intellectual work indeed. Highly appreciated and worth reading for youngsters and freedom lovers.“

Volker Groß von Radio Bonn/Rhein-Sieg sagt:

„Dieses Buch über die Staatssicherheit der DDR ist in Wirklichkeit ein flammendes Plädoyer für die Freiheit, interessant und lehrreich zugleich. Und trotz des Themas ist es kurzweilig und auch unterhaltsam geschrieben.“

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