Kenia | Safari, Tote, Entführungen
Kenia im Sommer vergangenen Jahres: Hunderttausende gehen auf die Straße. In ganz Kenia, nicht nur in der Hauptstadt Nairobi. Im CBD, dem Finanzdistrikt, waren die Proteste besonders stark. Die Polizei schoss offenbar nicht nur mit Tränengaspistolen, sondern auch scharf. Brutale Gewalt gegen die – in ihrer übergroßen Zahl – friedlichen Protestierer, überwiegend junge Leute. Schüsse gegen die Freiheit und ungeklärte (politische) Entführungen – in einem Land, in dem wir Urlaub machen und auf Safari gehen.
Inhalt
Mindestens 39 tote Demonstranten
Bis Ende 2024 wurden mindestens 39 Demonstranten in Kenia getötet. Die Nationale Menschenrechtskommission Kenias (KNCHR) hat diese Zahl für den Zeitraum zwischen dem 18. Juni und dem 1. Juli 2024 genannt. Das Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) verzeichnete vom 18. Juni bis Mitte Juli 2024 42 Todesfälle. Human Rights Watch dokumentierte bis Ende Juli mindestens 73 Todesfälle. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Zahl der Todesopfer aufgrund nicht gemeldeter Fälle höher sein könnte.
Seit den Protesten im Juni werden immer wieder Oppositionelle entführt. Menschenrechtsgruppen sprechen von 82 Entführungen. 29 Personen werden noch immer vermisst. Warum hören, lesen und sehen wir davon in Deutschland eigentlich nichts?
Das geplante Steuergesetz in Kenia
Wie sind die Proteste letzten Sommer überhaupt entstanden? Die Leute hatten es satt, für das wenige Essen immer mehr bezahlen zu sollen. Denn die geplanten Steuererhöhungen hätten vor allem die Armen getroffen. Und davon gibt es in dem „aufstrebenden Land in Ostafrika“ immer noch viel zu viele. Dabei beschreibt das deutsche Entwicklungsministerium als „drittgrößte Volkswirtschaft in Subsahara-Afrika“. Bei den allermeisten Leuten kommt davon aber kaum etwas an.
Kenia ... "verfügt über eine dynamische private Wirtschaft, eine geringe Abhängigkeit von Rohstoffexporten, eine wachsende Mittelschicht und eine zunehmend produktive Landwirtschaft. In den vergangenen Jahren wuchs die kenianische Wirtschaft jährlich um fünf bis sechs Prozent. Nach einem Einbruch der Wirtschaftsleistung im Zuge der Coronakrise 2020 (minus 0,3 Prozent) wurde 2021 mit einem Plus von 7,5 Prozent ein deutlicher Aufschwung verzeichnet. Für 2023 und 2024 erwartet die Weltbank Wachstumswerte von etwa fünf Prozent."
Deutsches Entwicklungsministerium, Mai 2023
Die sogenannte „Finance Bill“ sollte Geld in den maroden Haushalt des Landes spülen. Schließlich aber spülten die Massendemos die „Finance Bill“ in den Orkus. Kenias Präsident William Ruto musste dem Sturm der Entrüstung Tribut zollen. Die Wut vieler in Kenia hatte sich gegen ihn persönlich gewandt. Das hat auch damit zu tun, dass er – wie viele seiner Vorgänger – den Bürgern zu viel versprochen hatte.
Es sollte, natürlich, besser werden. Ruto wollte die krankhafte Korruption in Kenia kraftvoll bekämpfen. Er wollte den Menschen gute Perspektiven für Bildung, Ausbildung und Lebensqualität ermöglichen. Alles wollte er dafür tun, dass es den Leuten künftig besser geht als bei seinem Amtsantritt. Man kann nicht einmal sagen, dass er von seinen Versprechen gar nichts eingelöst hätte. Die überwältigende Mehrheit der Bürger indes hat offensichtlich einen anderen Eindruck. Rutos Umfrageergebnisse dürften noch niedriger sein als die des Kanzlers hierzulande.
"Es wird in Kenia keine Slums mehr geben"
Der Präsident Kenias gibt sich gern visionär. Mehrfach hat er davon gesprochen, dass es keine „Informal Settlements“ – also keine Slums – mehr in Kenia geben werde. Dabei nennt er unterschiedliche Jahre, in denen das erreicht werden solle. Die Realität allerdings sieht vielfach immer noch grauenhaft aus.
Im drittgrößten Slum der Hauptstadt Kenias, in Korogocho, leben etwa 200.000 bis 250.000 Leute. Auf anderthalb Quadratkilometern. Hier gehen 60% der Kinder auf den Müllplatz „Dandora“arbeiten, weil die Eltern nicht genügend Geld für Schule oder Ernährung ihrer Kinder verdienen können. Selbst 12- oder 13jährige suchen dort nach Essen. Einer davon ist im Artikelfoto zu sehen. Ohne Organisationen wie die Ayiera-Initiative in Korogocho sähe es für Tausende von Slumbewohnern noch schlimmer aus. Die Initiative wird aus Deutschland unter anderem vom Verein „Zukunft für Kinder in Slums e.V.“ unterstützt.
Kenia: Proteste, Tote, Entführungen
Dass über die Armut in weiten Teilen der Welt kaum berichtet wird, ist nicht neu. Schließlich, so die gebräuchliche Argumentation, sei das ja auch „eine ganz andere Welt“. Welch ein Irrtum! Hinweise, dass es sich ja um die selbe Welt handelt – nur woanders –, werden oftmals lediglich mit einem belanglosen „Stimmt eigentlich.“ pariert.
Die mindestens 39 Toten, die bei oder durch die Unruhen umgekommen sind, spielen hierzulande ebensowenig eine Rolle in den Medien. Gewiss, sie fanden Erwähnung auf dem Höhepunkt der Proteste. Aber das war’s. Was keinerlei Erwähnung in den deutschen Medien findet: Dutzende Entführungen von Menschenrechtlern, Studenten oder einfachen Bürgern in Kenia. Das geht seit Monaten so. Jeden Tag Nahost, Ukraine, Trump. Immer und immer wieder. Da scheint kein Platz für unseren Nachbarkontinent mehr zu sein.
Ein Senator wird verhaftet, und unsere Medien schweigen
Die Friedrich Ebert-Stiftung zitiert in ihrem Bericht über die Unruhen in Kenia im Sommer 2024 einen Kommunikationsexperten: „Die Maßnahmen seiner Regierung verstärken die Unzufriedenheit und Not der einfachen Bürgerinnen und Bürger noch weiter“, sagt er. Wegen seiner Beteiligung an den Protesten war auch er von der Polizei festgenommen worden. Wie vor ein paar Tagen Ende Dezember auch Senator Okiya Omtatah aus der Provinz Busia, an der Grenze zu Ruanda und des Viktoriasees gelegen. In unseren Medien findet man derlei Informationen nicht. Warum eigentlich nicht?
Die beste Zeitung Ost-Afrikas, die NATION, fragt seit Wochen nach den Entführten in Kenia. In seitenlangen Berichten und Kommentaren fordert sie täglich Aufklärung. Nicht anders zahllose Radio- und Fernsehsender, unter anderem Citizen-TV oder die Zeitung STAR – von sozialen Medien ganz zu schweigen. Die Antwort des Präsidenten: Demokratie habe auch seine Grenzen, wenn etwa in sozialen Medien gelogen oder die Wahrheit gebogen würde. Dabei hat das eine mit dem anderen nichts zu tun. Und eine wahrhaft präsidiale Antwort auf die Fragen seines Volkes sähe wohl auch anders aus. Zudem verschärft er damit – gewissermaßen mit eigener Kraft – die Ablehnung der Kenianer gegen seine Präsidentschaft.
Auf den Bildern unten sind zu sehen:
- Titel der „NATION“ vom 3. Januar 2024: „Leben sie noch?“ | Screenshot
- Doppelseite der „NATION“ an Silvester 2023 mit Bildern aktueller Demonstrationen | Screenshot
- Der „STAR“ nennt die Namen der alleine im Dezember 2024 Entführten. | Screenshot STAR
- Die Kenya National Commission on Human Rights (KNCHR) fordert am 2. Weihnachtsfeiertag 2024 den Stop der Entführungen. | Screenshot Citizen TV
"Kenia ist keine stabile Demokratie"
Spitznamen sind üblich in Afrika, auch in Kenia. Vermutlich hat jeder einen. Präsident Ruto hat mittlerweile einen christlichen abbekommen. Der ist allerdings alles andere als freundlich. „Zakayo“ nenen ihn seine Gegner. Er steht in Suaheli für Zachäus, und der war ein nicht gerade zimperlicher Steuereintreiber. Spitznamen allein genügen vielen inzwischen nicht mehr, wenn sie Ruto kritisieren. Das Handeslblatt zitiert im Oktober des vergangenen Jahres die Aktivistin Njeri Mwangi.
„Wir leben in einem Land, in dem sich einige wenige bereichern, während Millionen von Menschen sich nicht einmal eine Mahlzeit am Tag leisten können oder Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. Es ist eine Lüge, dass Kenia eine stabile Demokratie ist." ... „Auch wenn es auf den Straßen ruhig geworden ist, unter der Oberfläche brodelt es."
Menschenrechts-Aktivistin Njeri Mwangi, Vorsitzende des Center for Social Justice. Der Verein kümmert sich um die Rechte der Bewohner im Slum Mathare.
Verantwortung für die Kenia-Berichterstattung
Niemand erwartet von der kleinsten Zeitung oder dem jüngsten Medien-Startup eine umfangreiche Berichterstattung dessen, was gerade in Kenia geschieht. Von großen Blättern wie der FAZ, dem SPIEGEL, der Zeit oder der Süddeutschen muss man dies erwarten. Erst recht von den Öffentlich-Rechtlichen, die der Verfasser dieses Artikels für unverzichtbar hält. Wenn allerdings bunte Magazine, überzogene Schlager-Booms oder nicht enden wollende Wiederholungen von Kitschromanzen wichtiger sind als das, was in Kenia geschieht, ist etwas faul im Staate.
Die Berichtsgebiete der Korrespondenten der öffentlich-rechtlichen Sender sind – auch in Afrika – viel zu groß. Die Arbeit der Kolleginnen und Kollegen unter diesen Voraussetzungen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dennoch haben ARD, ZDF und Deutsche Welle eine besondere Verantwortung auch für Kenia. Schließlich kann und wird all das, was dort geschieht, Auswirkungen auf uns haben. Es hat es ja längst.
In Kenia sind etwa 75% der Bevölkerung jünger als 25 Jahre. Das entspricht einer jungen Bevölkerung von 32,8 Millionen. Das kürzlich zwischen Deutschland und Kenia unterzeichnete Migrationsabkommen ermöglicht es bis zu 250.000 Kenianern, in Deutschland zu arbeiten. Ziele des Abkommens sind, den Fachkräftemangel in Deutschland zu lindern und gleichzeitig die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Kenia zu bekämpfen. Dennoch können uns die „restlichen“ 32,5 Millionen Kenianer nicht einfach weiterhin gleichgültig sein. Auch die Demokratie in Kenia nicht.
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